China und die Neukonfiguration der globalen Geopolitik

Joachim Hirsch

Bei den Debatten um den Ukraine-Krieg bleibt auch in der linken Diskussion sehr oft der historische und geopolitische Hintergrund dieses Ereignisses unbeachtet. Vielleicht auch deshalb, weil inzwischen schon der Hinweis darauf, dass dieser eine Vorgeschichte hat, in die Nähe von Landesverrat gerückt wird. Das im Mai 2022 erschienene Heft 338 der Zeitschrift Das Argument mit dem Schwerpunkt „Europa zwischen USA und China – Re-Konfigurationen globaler Macht“ kann da einige Abhilfe schaffen. In der Tat lassen sich aktuelle Krisen und Konflikte, auch die drohenden militärischen Auseinandersetzungen im Südpazifik ohne diesen Zusammenhang nicht verstehen. (Ich beschränke mich hier auf den Schwerpunkt des Heftes und lasse die übrigen Beiträge unberücksichtigt).

W. F. Haug umreißt in seinem einleitenden Beitrag die zugrunde liegenden geopolitischen Verschiebungen und ihre Folgen. Ausgangspunkt ist der Zusammenbruch der Sowjetunion 1989, der zunächst zu einer unipolaren Weltordnung unter US-Hegemonie geführt hatte. Diese zerbricht nach Haug in der Finanzkrise 2008ff., die einen relativen politischen und ökonomischen Niedergang der USA einleitete und zugleich dazu führte, dass sich China aus der Abhängigkeit von den USA lösen konnte. In der Folge seien die USA zu einer eher nichthegemonialen und imperialen Machtpolitik übergegangen, bei der Russland und die aufstrebende Großmacht China zu Feinden erklärt würden. Dadurch werde eine gesamteuropäische Sicherheitspolitik verunmöglicht, die die Interessen aller Beteiligten, auch Russlands berücksichtigen hätte müssen. Dies ist ein wichtiger Hintergrund des Ukraine-Kriegs. Ebenso unmöglich wird dadurch eine Weltordnungspolitik unter Einbeziehung aller Großmächte, so Haug. Vor allem China werde für die USA zum Hauptfeind, der zunächst mit wirtschafspolitischen Mitteln bekämpft und einzukreisen versucht wird. Der Ukrainekrieg bilde nur einen Nebenschauplatz dieses Konflikts, der allerdings die Wirkung hatte, die auseinanderdriftenden NATO-Staaten wieder hinter den USA zu vereinen, die Organisation mit Schweden und Finnland auszuweiten und damit die US-Dominanz in Europa wieder zu festigen.

Die folgenden Beiträge beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten dieses Zusammenhangs. Hauke Neddermann verweistdarauf, dass die chinesische Politik nur unter Berücksichtigung der Geschichte dieses Landes verstanden werden kann. Bis in das 18. Jahrhundert war China eine auch ökonomisch prosperierende Großmacht, die dann den imperialistischen und kolonialistischen Interventionen der westlichen Mächte zum Opfer fiel. So gesehen handelt es sich bei der neueren Entwicklung um einen Wiederaufstieg und erklärt bis zu einem gewissen Grade die als aggressiv beurteilte Politik dieses Landes. Jenny Simon untersucht das Bestreben Chinas, ökonomische Spielregeln zumindest im regionalen Zusammenhang zu etablieren und mittels einer auf Ressourcengewinnung und Infrastrukturausbau ausgerichteten Investitionspolitik der Umklammerung durch die USA zu entgehen. Dabei komme dem Land die staatskapitalistische Regulationsweise – im Gegensatz zur westlich-neoliberalen – zugute. Dies bedeute zugleich eine verschärfte Konkurrenz mit der EU. Dieser Aspekt wird von Wolfram Schaffar weiter ausgeführt. Bei dem Versuch der Etablierung einer neuen Weltordnung im Gegensatz zur neoliberalen Globalisierung sei Europa für China von besonderer Bedeutung, wobei nicht zuletzt die Strategie bilateraler Abkommen vor allem mit autoritären Regimen im Zentrum stehe. Hans-Jürgen Bieling zeigt, dass auch bei der EU eine zunehmende geostrategische Machtorientierung festzustellen ist, was zu einer Triade-Konkurrenz zwischen ihr und den USA sowie China führt, wobei ihre Position allerdings relativ schwach ist. Daraus resultiere eine etwas ambivalente, zwischen Kooperationsbemühungen und Systemrivalität schwankende Politik gegenüber China, ohne dass es zu einer strategischen Übereinstimmung mit den USA käme. Ingar Solty schließt an diese Überlegungen an, weist darauf hin, dass die Lösung des Konflikts zwischen den USA und China entscheidende Voraussetzung für eine Bewältigung der Klimakrise sei und dass es darauf ankomme, dass sich die EU hier einschalte. Was die Konkurrenz mit China angehe, so sei es eine Schwäche der EU, sich mit ihrer neoliberalen Sparpolitik der Möglichkeit für eine aktive Industriepolitik beraubt zu haben und damit dem in Bezug auf technisch-ökonomische Transformationsprozesse überlegenen staatskapitalistischen System Chinas gleichzuziehen. Daraus ergäbe sich eine deutliche Tendenz, sich der Konfrontationspolitik der USA anzuschließen.

Natürlich können diese Beiträge nicht alle Dimensionen des neuen geostrategischen Konfliktszenarios beleuchten. Sie sind aber sehr informativ und können zu weiteren Überlegungen und Untersuchungen anregen. Auffallend ist allerdings, dass alle der hier besprochenen Beiträge ein theoretisches Problem aufweisen. Es besteht darin, dass Staaten als homogen handelnde und geschlossene Akteure betrachtet werden – in der Terminologie der Theorie der internationalen Politik handelt es sich also gewissermaßen um einen neorealistischen Ansatz. Dieser blendet die inneren Widersprüche und Konfliktstrukturen aus. Das ist in Bezug auf die EU, die ja kein Staat ist offensichtlich, gilt aber auch für die USA und China. Es bleibt deshalb nicht zuletzt auch die Frage offen, wie stabil und dauerhaft das als ökonomisch besonders erfolgreich charakterisierte chinesische Modell ist. Dass autoritäre Systeme wie das chinesische oft nicht sehr lange bestandsfähig sind, müsste auf jeden Fall mitberücksichtigt werden.

Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Jahrgang 63, Heft 3, 2021 (erschienen Mai 2022).